07.04.2020
No. 102
Corona über alles in der Welt
die großen Gewinner (Teil 2)
In der Corona-Krise wird Undenkbares plötzlich real: Peter Altmaier fordert ein „umfassendes Fitnessprogramm“! Nicht für sich, sondern zunächst nur für die Wirtschaft. In den USA wird der Katastrophenfall ausgerufen – mit drei Jahren Verspätung. Die Deutschen horten Nudeln – wollen aber keine italienischen Verhältnisse. Und aus Angst vor Plünderungen stehen ägyptische Mumien unter Pyramidenarrest, weil sie plötzlich im wertvollsten Rohstoff unserer Tage eingewickelt sind. Doch wer sind die Hauptnutznießer der Corona-Krise? Teil 2 unserer Galerie der Glücklichen.
9. die Kabarettschaffenden: Das Publikum wird der Kleinkunst in diesem Frühsommer immerhin nicht – wie in geraden Jahren üblich – wegen Fußball-EM/WM oder wegen des schönen Wetters fernbleiben, sondern wegen Corona. Stattdessen blüht das Quarantainment aus den Wohnzimmern deutscher Großstädte. Bald ist Jubiläum: Die tausendste Distancinger-Songwriterin Mitte zwanzig schreibt ein Lied übers Zu-Hause-Hocken, Prokrastinieren und Netflix-Bingen. (Das Wort „Binge-Watching“ kommt übrigens aus dem Sächsischen: von „binge eingeschlafen“.) Wie gut, dass sich eine ganze Armee von Künstlern bereits seit Jahren so gut in diese brennenden Themen eingearbeitet hat, dass keine Themenumstellung nötig wird.
10. Burka-Fabriken: Während hierzulande der Mundschutz als Frühjahrstrend zum absoluten Mask-Have wird, ist die arabische Welt schon längst weiter. Der Modetrend des Jahres 2020: FFP3-Burkas für die Haremsdame von Welt!
11. gläubige Corona-Infizierte: Ihnen erlässt der Vatikan pauschal die Sünden. Es sei denn, sie haben gleichzeitig HIV. Dann gilt das Kontaktverbot aus den achtziger Jahren fort. Reihenweise Priester, für die bisher die großzügige Eintagewoche galt, gehen nun in Kurzarbeit, weil die Gottesdienste auf virologischen Rat hin ausfallen. Dies findet der Papst übrigens falsch. Und die Geschichte beweist, dass die Menschheit immer dann besonders gut gefahren ist, wenn die katholische Kirche der Wissenschaft wohlmeinende und verbindliche Tipps gab. Eine besondere Ironie der Geschichte bieten die Passionsspiele in Oberammergau: Sie wurden im 17. Jahrhundert ins Leben gerufen, um zu würdigen, dass die Christen durch ihre außerordentliche Betleistung eine Epidemie beendet hatten. Seither lief Jesus nach altem Ritus („Copy and Pest“) alle zehn Jahre von Ober- über Unterammergau und Pontius nach Pilatus. 2020 wäre es wieder so weit gewesen – aber leider hatte das Coronavirus das Geschichtsbuch nicht gelesen. Ein Ober-Jammer-GAU.
12. ehemalige DDR-Kabarettautoren: Alte Mangelwitze über Klopapier, neu aufgerollt und ein wenig abgeschliffen – wie neu!
13. die Deutsche Bahn: Da zurzeit noch kein Lok-Down geplant ist, fährt die Bahn weiter. Die Pünktlichkeitsquote erhöhte sich im März von 78 auf sagenhafte 82 Prozent! Ausgefallene Reservierungsanzeigen sind nicht mehr so schlimm, und sogar das Bordbistro erwärmt nichts mehr: Die Bahn ist zurzeit wirklich ein besserer Ort.
14. meine Oma: Nicht nur, dass sie ihren Hund zum Gassigehen an Interessierte vermietet, die eine Ausrede fürs Draußensein benötigen – meine Oma nutzt auch die Generation „Jetten & Retten“ aus (die momentan nicht jetten kann) und lässt 19-Jährige gegen eine geringe Gebühr Einkäufe vor ihre Tür stellen. Ein gutes Gefühl gibt es nun mal nicht umsonst. Sogenanntes Tom-Sawyer-Geschäftsprinzip. Außerdem spart meine Oma jetzt für jeden meiner nicht stattgefundenen Besuche 50 Euro. Also, die Rente meiner Oma ist sicher!
15. Liebhaber von Fundstücken aus der Kabarettgeschichte: Bereits 1904 sorgte der „Schutzmann Müller“ von Hans Hyan als unerbittliches Auge des Gesetzes dafür, dass sich – wie im fernen 2020 – tunlichst nicht mehr als zwei Menschen auf Berlins Straßen versammeln: „Jehn Se ausenanda! Blei’m Se hier nich stehn! Sons muss ick mit Ihnen nach de Wache jehn!“ In der letzten Strophe erfahren wir, dass Müllers Pflichtbewusstsein den Freund und Helfer sogar bis in den Tod begleitet, denn noch auf seinem Grabstein werde dereinst zu lesen sein: „Jehn Se ausenanda...“ Und wenn Sie zu Ostern einen Urlaub in Italien geplant hatten, diesem wunderschönen, so stark vom Virus gebeutelten Land, so sei beim „Insulaner“-Chef Günter Neumann nachgeschlagen, der sich bereits Mitte der fünfziger Jahre von Balkonien aus mit einem herzerwärmenden Chanson behalf, als es nicht für den damals obligatorischen Italienurlaub reichte: „Ick stell’ mir vor, Berlin läg’ in Italien“.
Text: Tilman Lucke