06.08.2020
No. 119
Hurra, die Schule brennt
#Schule #Werbung #Corona
Achtung: Gehirne bitte immer bei 60 Grad Waschen. Dann gehen sie zwar ein bisschen ein, aber die letzten Flecken kritischen Bewusstseins gehen garantiert auch raus.
Auf Beschluss der Kultusminister*innen sollen unsere Schulen ab August wieder zum sogenannten Normalbetrieb zurückkehren. Aber kann man das angesichts der bisherigen Erfahrungen wirklich wollen? Normalbetrieb heißt schließlich Burnout, marode Unterrichtsräume und der kleine Torben aus der 4b landet wieder regelmäßig mit dem Kopf in der Toilette. Hoffentlich wechselt er danach wenigstens seine Gesichtsmaske. Ebenfalls Teil des Normalbetriebs sind Alkoholprobleme innerhalb des Kollegiums. Anders gesagt: Immer häufiger ist der Lehrkörper voll. Wie oft schon lallten z.B. Religionslehrer*innen schon vor der ersten Stunde: »Joseph und Maria Cron nahmen das Jesuskind und betteten es in Stroh 80. Danach konnte Jesus Wasser lassen und verwandelte es in Wein. Prost«
Zum Glück sind deutsche Schulen wenigstens keine Corona-Hotspots mit erhöhtem Infektionsrisiko. Stundenlange Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen sind aufgrund des grassierenden Unterrichtsausfalls technisch ausgeschlossen. Auch die Abstandsregeln können leicht eingehalten werden. Dank weit verbreiteter Selfie-Stangen sogar bei den obligatorischen Schulhofprügeleien. Oder wie sie in Berlin heißen: Wahlpflichtfach Sport.
Abseits dieser bekannten Probleme gehört es leider auch zum Normalbetrieb, dass in 90 % der deutschen Schulen Wirtschaft und Industrie versuchen, Einfluss auf die Lehrinhalte zu nehmen. In 90 % der Schulen – und das ist mehr als im OECD-Durchschnitt – wird versucht, Schulen indirekt als Werbefläche zu benutzen, Schüler*innen und Eltern als Kunden zu gewinnen oder irgendwie eine wirtschaftsliberale Ideologie unterzubringen. Besonders aktiv dabei ist die Automobilbranche. Was die wohl in deutschen Schulen machen? Etwa Schummelsoftware bereitstellen? Gespickt mit tollen Features: »Wir tunen Ihr Abi-Durschnitt auf 0,9.«
Unternehmen und Wirtschaftsverbände stellen Lehrmaterial bereit, d.h. kostenlose Arbeitsblätter, Lehrbücher, interaktive Rollenspiele, Schülerlabore oder auch mal komplette Unterrichtseinheiten. VW verteilt z.B. Hefte zum Thema Umweltschutz und lobt darin seine klimafreundlichen Verbrennungsmotoren. Und Mercedes Benz bietet Material für die Grundschule an, welches von vorne bis hinten voll ist mit Fotos von Mercedes-Benz-Autos. Gut, bei so viel Zurückhaltung kann man sich immer noch auf Zufall herausreden. Problematischer ist dagegen die Aufgabenstellung. Die Kinder sollen die abgebildeten Autos hinsichtlich der Größe des Koffer- und Fahrgastraums beschreiben. Bürger*innen erzieht man so sicherlich nicht, eher Crash-Test-Dummies. Eleganter kann man ein Land nicht an die Wand fahren. Fachdidaktiker*innen nennen so etwas ABS. Anti-Bildungs-System. Bei dieser Aufgabe kann man übrigens auch durchfallen. Wenn gefragt wird: »Wer hat denn den größten Fahrgastraum und den stärksten Motor?« und Ihr Kind antwortet: »Die Bahn. Die fährt sogar mit Ökostrom!«, dann ist das zwar richtig, aber Ihr Kind ist trotzdem raus. Auch schön ist die Firma Henkel. Die liefert Informationen über die Entwicklung des Wäschewaschens und des Waschmittels am Beispiel Persil. Im Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II, also Abiturstufe, sollen die Lernenden Waschmittelwerbungen vergleichen. Aber Achtung: Gehirne bitte immer bei 60 Grad Waschen. Dann gehen sie zwar ein bisschen ein, aber die letzten Flecken kritischen Bewusstseins gehen garantiert auch raus. Was kommt da bloß als nächstes? Vielleicht »Das Periodensystem«, gesponsert von Always Ultras.
Dabei geht es den Unternehmen und ihren Verbänden nicht bloß um plumpe Werbung. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft etwa kritisiert in einer ihrer Studien herkömmliche Schulbücher mit den Worten, hier werde: »unternehmerisches und rein marktwirtschaftliches Handeln nicht als höchstes Gut ein[ge]ordnet.« Das ist aber auch gemein, dass sich unsere Schulbücher an Artikel 1 des Grundgesetzes halten und nicht an den Punktestand vom Dax oder dem Dow Jones Index. Und am Ende wundern wir uns, dass die Kinder in den Schulen nicht genug lernen. Ist doch so. Die meisten Abiturient*innen glauben doch mittlerweile, Goethes Vorname sei Fuck You.
So gesehen darf der Normalbetrieb an deutschen Schulen vielleicht doch noch etwas auf sich warten lassen.
Text: Martin Valenske