21.10.2020

No. 130

BER – frisch geübt ist halb verschoben

 

Am Ende dieses verrückten Jahres werden die zwei einzigen Dinge, die nicht verschoben wurden, der Brexit und der BER sein. Endlich gilt Paragraf 315 des Strafgesetzbuchs („Gefährliche Eingriffe in den Luftverkehr“) auch wieder in Berlin! Der Flugbetrieb wurde seit Sommer sogar geprobt. Mit nur 18 Prozent Misserfolgsquote. Ich war eines von diesen 18 Prozent. #BERtesten

 

2020 – die Zukunft kann kommen! In Berlin liegt ja gern mal etwas in der Zukunft – seit neun Jahren beispielsweise unser Flughafen. Bisher war der BER lediglich immaterielles Weltkulturerbe. Bis vor kurzem nannten Juristen das Großprojekt noch schlicht und pessimistisch „Rücktritt vom Versuch“. Aber nun könnte es tatsächlich Wirklichkeit werden: In Berlin, der Stadt des organisierten Scheiterns, diesem sympathischen Failed Stadtstate im Herzen Deutschlands, wo Otto Lilienthal vor 124 Jahren schon ganz ohne Flughafen nicht landen konnte, soll zu Halloween tatsächlich ein Flughafen eröffnen. Damit ist der BER der weltweit erste Airport, der gleichzeitig mit seiner Eröffnung sein dreißigjähriges Planungsjubiläum feiern kann. Schließlich kam direkt mit der Deutschen Einheit der Wunsch, dass Berlin international gut erreichbar sein sollte. Bundeskanzler Willy Brandt, der Namensgeber, war schon nach fünf Jahren, also einem Sechstel der Zeit, völlig fertig. Der Eröffnungszeitpunkt könnte nicht günstiger sein: Wann sollte ein Standort in den internationalen Flugverkehr einsteigen, wenn nicht mitten in der zweiten Welle einer Pandemie mit Reisewarnungen für 166 Länder? Immerhin kann man noch ohne Quarantäne nach Lettland und Liechtenstein fliegen. Und nach China. Und im Flieger wird Fledermaussuppe gereicht.

Seit Juli wurde der Flugbetrieb am BER akribisch geübt. Denn man weiß ja: Wenn die Generalprobe gut läuft, wird die Premiere richtig gut! Hätten die Proben nicht stattgefunden, hätte niemand herausgefunden, dass die Öffnungen der Mülleimer allesamt zu klein sind, so dass sie bereits von Kaffeebechern verstopft werden können, oder dass im 21. Jahrhundert die eine oder andere Steckdose im Wartebereich angebracht wäre. Überhaupt ist das Konzept „Proben“ ein Geheimtipp, der sich inzwischen sogar bei einigen Kabarettisten durchzusetzen scheint. Vielleicht hätte man damals die „Titanic“ auch erst mal mit Komparsen auf den Eisberg zufahren lassen sollen. Und Angela Merkel hätte die Flüchtlingskrise 2015 auch besser erst mal mit einer Million Komparsen durchgespielt.

An 28 verschiedenen Tagen – also für jeden verstrichenen Eröffnungstermin einen – übten insgesamt neuntausend Komparsen. Eigentlich brauchte man nur achttausend Leute, aber man plante die ein, die zwischenzeitlich an Altersschwäche sterben würden. Die Ausschreibung für die Übung forderte zum Mitbringen von Geduld, Waffen und gefährlichen Wasser- und Shampooflaschen auf, damit auch die Sicherheitskontrolle gut geübt werden konnte. Ferner sollte man lediglich Koffer mitführen, die man nicht mehr brauchte. Es sollte ja alles so original wie möglich vonstatten gehen. Man sagt ja nicht umsonst, am Flughafen müsse man Gepäck „aufgeben“. Vorkenntnisse waren nicht nötig, so etwas sei am BER grundsätzlich nicht üblich.

Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup, dessen Name nebenbei in Loriot-Sketchen jobbt, vermeldete für die Übungsphase eine Erfolgsquote von 82 Prozent. Damit liegt die Flughafengesellschaft noch über der Pünktlichkeitsquote der Deutschen Bahn. Heißt: Fünf dieser 28 Übungstage gingen komplett in die Windhose.

Ich selbst durfte auch Zeuge des Probebetriebs werden und hatte mich als Komparse angemeldet, sprichwörtlich für einen Appel und ein labbeliges Butterbrot. In jeder anderen Stadt wäre es üblich, Komparsen – verrückter Gedanke! – mit Geld zu entlohnen. Aber in Berlin war es vermutlich nicht schwer, 9000 Katastrophentouristen zu finden, die es auch umsonst machen. Wie mich. Immerhin: Als Geschenk gab es eine stylische Maske mit dem aufgedruckten Motto „#BERtesten“. Die trug allerdings fast niemand, weil man ohne eigene Maske gar nicht reingekommen wäre. Auf der Innenseite besteht die Maske aus Baumwollstoff mit einem seitlichen Eingriff. Sieht verdächtig nach einer umgenähten Unterhose aus! Böse Zungen würden sagen: Eingriff ins Klo.

Als Komparse bekam ich zunächst eine fiktive Identität. Für diejenigen, die zurzeit regelmäßig als Micky Maus oder Batman in Restaurants speisen, eine gewohnte Situation. Einige erhielten Spezialaufträge wie übergroßes Gepäck, Verletzung, Taschendiebstahl oder ähnliches. Hatte man hingegen einen ungespielten Notfall, sollte man deutlich „Tatsache“ dazu sagen.

Mit der Fake-Identität hatte man sich je nach Anweisung einen Fake-Koffer zu greifen, der sogar mit Fake-Klamotten gefüllt war. Schließlich erhielt man ein Fake-Reiseziel, sollte das Gepäck am zugehörigen Fake-in-Schalter aufgeben, zum Fake-Gate gehen und anschließend boarden. Hieß für die Übung: Man stieg in einen Bus, fuhr einmal um den Flughafen herum, stieg wieder aus und nahm sich statt des eigenen irgendeinen anderen Koffer. So weit, so unspektakulär. Außer dass zwei solcher Runden vorgesehen waren und nach dem Ende der ersten ein unerwartetes Ereignis eintrat: Es wurde dunkel. Das soll Historikern und Astronomen zufolge nicht ungewöhnlich sein, schließlich war es Abend. In der Haupthalle wurde es immer schummriger, nur noch die Lampen an den Schaltern leuchteten. Nach längerem Warten machte die Kunde die Runde, dass niemand den Lichtschalter für der Haupthalle finden konnte. Damit war die Übung beendet.

Seltsam, vor ein paar Jahren hieß es noch, auf dem gesamten Baugelände brenne Tag und Nacht das Licht, weil der Lichtschalter damals auch schon verschollen war. Anscheinend hatte ihn in der Zwischenzeit irgend jemand ausfindig gemacht und ein einziges Mal betätigt. Aber ich bin mir sicher, Engelbert Lütke Daldrup hat die Fehler- und Lichtquelle inzwischen persönlich gefunden.

Als Komparse bekam ich jedenfalls das, was ich als Berliner von meiner Stadt erwartet hatte. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn alles glatt gegangen wäre. Tatsache.

 Text: Tilman Lucke