14.05.2021

No. 160

Deutschland am Buffet – Schimpfen statt Impfen

Die Impfkampagne ist wie ein schlecht organisiertes Hotelbuffet: Deutschland drängelt, trödelt, verschüttet und stellt sich dumm an. #allesnichtmachten

 

Im ganzen Land wird an Bushaltestellen aggressiv für etwas geworben, was es gar nicht gibt. „Jesus lebt"? – Nein, viel unergründlicher! Es geht um Impftermine. Im Marketing ist das Konzept der Verknappung äußerst erfolgreich: Wer an der Litfaßsäule ein mit „Ausverkauft!" überklebtes Plakat für ein Konzert oder eine Kabarettvorstellung (Scherz!) sieht, wird sich fürs kommende Jahr umso früher um eine Karte kümmern. So gesehen, wird sich die Corona-Auffrischungsimpfung 2022 gewiss einer hohen Nachfrage erfreuen.
Die Priorisierung fristet indes ein Schrödingers-Katze-Dasein: Niemand weiß, ob sie noch gilt oder wann sie wo aufgehoben wurde. Über die allgegenwärtigen Corona-Ticker läuft tagtäglich dieselbe Meldung: „Priorisierung in ... [Bundesland einfügen] für ... [Impfstoff einfügen] aufgehoben", gefolgt von der ebenfalls immer gleichen Schlagzeile: „... [Behörde, Kommission oder Karl Lauterbach einfügen] für Beibehaltung der Priorisierung".
Offiziell wird in den Impfzentren noch priorisiert, aber die Terminsoftware „Doctolib" streikt ganz demokratisch für alle vier Gruppen. Mutmaßlich koordiniert Doctolib auch seit Jahren für die Deutsche Bahn die Ankunftstermine von ICEs. In Arztpraxen gilt die Priorisierung zwar noch, aber nur als Empfehlung. Die ist so verbindlich wie die Berliner Empfehlung, am Ersten Mai keine Autos anzuzünden. Apropos: Inzwischen bespielen mobile Impfteams auch „Problembezirke", und innerhalb dieser „Problem"-Gruppe wird ganz diskriminierungsfrei nicht priorisiert. Wer also wegen des Mietendeckel-Desasters auf der Straße steht, wird dort wenigstens noch vor der Hausverwaltung geimpft! Berlins neuer Stadtslogan: „Arm, aber ein gepiekster!"
Die meisten Deutschen verhalten sich in Bezug auf eine Corona-Impfung „compliant", wie es epidemiologisch so schön heißt. Sie beteiligen sich also möglichst kooperativ und geduldig. Heißt: Sie klicken sich täglich durch die unanklickbaren Terminfelder aller sechs Berliner Impfzentren und lassen sich von Herzen gern von der automatischen Corona-Warteschleifenansage zum Auflegen auffordern. Das Gute an dieser Klientel: Wer hundertmal anruft, ruft auch zweihundertmal an. Da verhält es sich wie mit Stamm- und Neukundinnen bei Telefonverträgen: Die Oma von nebenan wird mit ihrem teuren Altvertrag nie ein Rabattangebot erhalten, obwohl sie extrem erfolglos telefoniert und dem Avatar am anderen Ende der Leitung täglich den Hotlineblues „Ich ruf' kein Schwein an..." in den Brokathörer summt.
Gruppen hingegen, die weniger Compliance aufweisen, werden plötzlich ganz unbürokratisch geimpft. Vielleicht empfiehlt es sich, Corona-Leugner zu werden, um die Impfung sofort zu bekommen? Die Letzten werden die Ersten sein. Was übrigens eine konsequente Fortsetzung der Corona-Politik wäre: Kompliziert ist eine Regel schließlich nur für diejenigen, die sie einhalten wollen.
In dieser Situation braucht Deutschland natürlich nichts dringender als eine Bestrafung von „Impfdränglern". Durch die Republik schallt seit Monaten der Schlachtruf: „Die Ersten sind das Letzte!" – wobei der Mob auf Mistgabeln verzichtet, weil die Beschimpften ihren Pieks ja schon erhalten haben. Deutschland meint: Vordrängeln geht gar nicht! (Genauer: Solange die Leiterin des Impfzentrums nicht auch mit mir befreundet ist, soll auch der Oberbürgermeister nichts kriegen.) Warb Helmut Kohl 1990 noch für die Währungsunion: „Es wird keinem schlechter gehen", so ließe sich die Wahl 2021 locker mit dem Gegenslogan gewinnen: „Keinem soll es besser gehen!"
Für welche der folgenden zwei Situationen würden Sie sich entscheiden? Situation A: Ihr Nachbar wird morgen geimpft, und Sie sind dann übermorgen dran. Situation B: Sie werden in vier Wochen geimpft und Ihr Nachbar in fünf Wochen. (Ich würde ja vernünftigerweise Fall A wählen, aber mein Nachbar, der Asi, entscheidet sich bestimmt für B! Also nehme ich auch B.)
Vielleicht sollte eher das „Impftrödeln" unter Strafe stehen: Termine verfallen zu lassen, weil man bereits anderweitig drangekommen ist. Halt, stopp – man kann ja mit den Impfzentren weder schriftlich noch telefonisch Kontakt aufnehmen, um einen Termin abzusagen. Im Tonnemonat Mai verfallen schätzungsweise bis zu zehn Prozent aller Termine, ohne dass Wartelisten in gleichem Umfang abgearbeitet werden oder überhaupt existieren. Manche Impfzentren verheimlichen sogar ihre Öffnungszeiten, bloß damit man am Ende des Tages, ungestört von Impfbettlern, die Restdosen vernichten kann. Hausärztinnen berichten dazu von rüstigen Senioren, die sich weigern, das billige Astra in den Arm zu bekommen, und ungeimpft wieder aus der Sprechstunde stürmen.
Jeder einzelne Pandemieteilnehmer hat also eine Menge Möglichkeiten, das Impfchaos zu vergrößern und die Pandemie wirksam zu verlängern. Auch der Föderalismus (#allesnichtmachen) mischt in Hochform mit: Schlaue Länder wie Brandenburg stoppten im April sogar kurzzeitig alle Erstimpfungen zugunsten der Zweitimpfungen. „Wer hat noch nicht?" ist aus – aber wer will noch mal?
Ist da nicht noch heiße Luft nach oben? Warum sollte es beispielsweise ausreichen, dass man im Impfzentrum sieben Unterschriften leisten muss? Bekommt jemand, der nur sechsmal unterschreibt, statt Moderna lediglich Kochsalz injiziert? Wären zehn Unterschriften nicht viel sicherer? Wir brauchen dringend mal wieder eine Ministerpräsidentenkonferenz.
Kleine Pointenvorschau auf den Herbst: Da man als Wahlhelferin automatisch in die Prioritätsgruppe 3 eingeordnet wird, freut sich Berlin in diesem Jahr über so viele freiwillige Wahlhelferinnen wie noch nie. Man darf gespannt sein, ob sie sich am Morgen des 26. September noch an dieses Ehrenamt erinnern werden oder ob so manches Wahllokal um acht Uhr geschlossen bleibt, weil auch hier die eine oder der andere einen Termin nicht wahrnehmen will.
Impfdeutschland ist die Widerlegung der Schwarmintelligenz; man fühlt sich wie am Hotelbuffet. (Ein Hotel, was war das noch mal?) Das Buffet ist meist in die engste Ecke des Raumes gezwängt, unübersichtlich sortiert, und anstellen kann man sich nur dumm. Sobald sich die Ersten in die Schlacht werfen, entsteht ein gewaltiger Stau. Während man geduldig wartet, schimpft man auf die lahmen Enten da vorne. Ist man hingegen selbst dran und hat für wenige Augenblicke die Macht inne, so wird man zusehen, dass niemand auch nur ein Senfpäckchen vom Buffet stibitzt, bevor man selbst seinen Teller nicht randvoll gefüllt hat. Das Machtgefühl steigt ins Unermessliche, wenn man der Hinterfrau sogar das letzte Brötchen wegschnappen konnte. Ob man überhaupt vorhat, es zu verzehren, ist zweitrangig. Schließlich schreitet man zum Platz, mit abschätzigem Blick auf die Hungernden in der Schlange, und verspeist in aller Gemütlichkeit bis zu einem Drittel seiner Portion. Nicht, ohne ab und zu zum Buffet zu schielen und sich zu freuen, wenn jemand vor einem leeren Korb steht und nun noch länger warten muss. Werden die Brötchen hingegen wieder aufgefüllt, rempelt man sich frisch gestärkt und mit neuem Teller zur Zweitportion. Und am Ende des Frühstücks harrt so manche Restdose auf dem Buffet ihrer Entsorgung.
Das wäre übrigens eine ganz banale Erklärung für das anhaltende Aprilwetter: Wir essen seit Wochen unsere Teller nicht leer!
 

 Text: Tilman Lucke