31.01.2022

No. 196

Im Rausch der Geschwindigkeit.

Autor: Martin Valenske

 

Bei archäologischen Ausgrabungen in Berlin wurde kürzlich die älteste Straße der Hauptstadt freigelegt: Sie ist 800 Jahre alt, komplett aus Holz und laut Fachleuten in deutlich besserem Zustand als die A7. Schlimmer als der Zustand deutscher Autobahnen ist aber der Zustand der Landstraßen. Für SUV’s ist das sicher kein Problem, aber so ein Kleinwagen verschwindet da schon mal im Schlagloch. Um den tiefen Fall abzufedern, werden »Smart« und »VW Polo« jetzt mit Fallschirmen ausgestattet. Ähnlich kritisch ist es um unsere Autobahnbrücken bestellt. Immer mehr Brücken sind sanierungsbedürftig, unbefahrbar oder brechen gleich ganz zusammen. Nicht umsonst sagen Fachleute schon seit Jahren: »Über sieben Brücken musst du GEHEN (!)« Vom Fahren mit schweren Autos war nie die Rede.

 

Dennoch ist die teilweise marode Infrastruktur nicht das größte Problem auf Deutschlands Straßen. Das größte Problem ist nach wie vor die Angst. Denn seien wir ehrlich: Wer nachts mit 280 km/h durch eine geschlossene Ortschaft schleicht, hat häufig Angst. Angst, dass einem irgend so ein bekloppter Raser hinten reinfährt! Viele sind derart vom Rausch der Geschwindigkeit eingenommen, dass sie gar keine Grenzen mehr kennen. Das extremste Beispiel ist sicherlich der tschechische Unternehmer Radim Passer. Der ist kürzlich – kein Scherz – mit 417 km/h über eine deutsche Autobahn geheizt. Das ist beeindruckend und ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Damit ist er der erste und einzige Osteuropäer, der wirklich vor dem Russen abhauen kann.

 

Dass Fahrer (und nein, hier dürfen wir laut Statistik wirklich nicht gendern!) mit übermotorisierten Maschinen wie einem Bugatti oder Porsche Tempolimits nur als unverbindliche Empfehlung interpretieren, ist sicher keine große Überraschung. Spannender ist dagegen ein Blick auf die Regionen und Städte in Deutschland, in denen am meisten gerast wird. Klassische Proleten-Hochburgen wie Berlin oder Gelsenkirchen gehören nicht dazu, ganz im Gegenteil. Am flottesten ist man in Bielefeld, Dresden, Rostock und Kiel unterwegs. Tempo 30 wird hier höchstens als Richtgeschwindigkeit für BobbyCars akzeptiert, von ausgewachsenen Verkehrsteilnehmer*innen wird mehr erwartet. Ortsfremde verunsichert dieser Geschwindigkeitswahn natürlich. Denn wenn es in Bielefeld, Dresden, Rostock oder Kiel mal so ordentlich knallt, weiß niemand so genau: War das jetzt ein Verkehrsunfall? Oder hat Oma Inge beim rückwärts einparken mal wieder die Schallmauer durchbrochen?

 

Mittlerweile ist diese Raserei aber sogar unserem FDP-Verkehrsminister zu viel. Entgegen der offiziellen Linie seiner Partei befürwortet auch er jetzt ein generelles Tempolimit: 190 km/h auf Spielstraßen – das so genannte »Bielefelder Modell«. Und sogar sein Parteichef Christian Lindner, seines Zeichens passionierter Porsche-Fahrer, zeigt sich begeistert: »190 km/h? Cool, dann kann ich endlich mal den ersten Gang ausprobieren.« 

 


 
Martin Valenske ist zu sehen in: "Dauerstussverkauf" (Soloprogramm) und zusammen mit Henning Ruwe in "2022 - das kann heiter werden".