11.08.2019

No. 64

„Deutsche Beten" enteignen!

Chronik einer Prochristination

 

100 Jahre Weimarer Verfassung – das Reich existiert nicht mehr, doch reich geblieben sind die Kirchen. Seit 200 Jahren werden die Kirchen für die Säkularisierung entschädigt, obwohl das seit genau 100 Jahren beendet sein sollte.  Das Christentum, deutscher Anachronismus-Meister der Jahrhunderte eins bis einundzwanzig, sollte seit 1919 keine staatlichen Zahlungen mehr erhalten. Wer hat's verpennt?

Autor: TILMAN LUCKE

  

Am 11. August feiern wir 100 Jahre Weimarer Verfassung. Einige ihrer Bestimmungen wurden 1949 Teil des Grundgesetzes und gelten somit immer noch. Artikel 138 der Weimarer Verfassung fordert etwa: „Die [...] Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf."

„Werden abgelöst" – der Indikativ ist der beste Imperativ. Es heißt nicht: „Die Staatsleistungen sollen in hundert Jahren vielleicht abgelöst werden." Daher kann sich Artikel 138 rühmen, die am längsten uneingelöste Verfassungsvorschrift der Geschichte zu sein. Das Reich hat bis 1945 nie ein solches Gesetz beschlossen. Vielleicht haben sich danach die Reichsbürger darum gekümmert? Als die Bundesrepublik das Reich ablöste, wurde immer noch nichts abgelöst. (Ein weiterer Artikel fordert übrigens seit hundert Jahren: „Angela Merkel wird abgelöst." Aber das ist ein anderes Thema.)

Staatsleistungen, also Direktzahlungen an die Bistümer und Kirchengemeinden, haben ihren Ursprung im Jahr 1803, als den Kirchen die Herrschaftsgebiete abhandenkamen. Säkularisierung nannte man das, und die wirkt sich auch über zwei Säkula später noch aus: Seit 1803 fließen die Entschädigungen an die Kirchen. Wurden die Opfer von sexuellem Missbrauch ebenfalls so großzügig und so lange entschädigt?

Pro Jahr heimsen die Kirchen allein durch direkte Staatsleistungen 524 Millionen Euro ein. Wohlgemerkt, eine Summe, die es seit hundert Jahren nicht mehr geben sollte! Ganz schön unbetmäßig. Was sind dagegen die Peanuts aus Mautverträgen, Bundeswehrschlamperei und BER-Chaos? Die Verfassung spricht aber nur von den direkten Zahlungen.

Die staatliche Unterstützung insgesamt, vor allem Religionsunterricht, Theologenausbildung und die Bezahlung der Pfarrer, kosten pro Jahr etwa 11,6 Milliarden Euro. Dazu kommen noch 5,7 Milliarden an Steuern, die dem Staat jedes Jahr entgehen. Die Jesus-Krösusse stufen sich selbst nämlich als gemeinnützige Vereine ein. Gegen Steuervermeidung in dieser Höhe ist Uli Hoeneß ein armes Würstchen!

Dem Fass ohne Boden die Dornenkrone ins Gesicht schlägt aber die Wohltätigkeit: Caritas und Diakonie tun für insgesamt 50 Milliarden Euro pro Jahr Gutes. Lobenswert! Doch woher kommt das Geld? Zehn Prozent kommen nicht von der Kirche, sondern werden von Privatpersonen gespendet. Kleiner Tipp: Schreiben Sie auf den nächsten Zehner, den Sie in den Klingelbeutel werfen, einfach Ihren eigenen Namen, sonst tut es die Kirche. Die restlichen 90 Prozent der Mildtätigkeit kommen ebenfalls nicht von der Kirche, sondern vom Steuerzahler. Das ist, wie wenn man jemandem das Portemonnaie klaut, sich davon ein Auto kauft und vom Rest den Penner um die Ecke zu einer Currywurst einlädt. Tue Gutes, und rede nicht darüber, wo das Geld herkommt!

Lange Predigt, kurzer Sinn: Den gesamten Kirchenbesitz zu schätzen, ist schwierig, denn zur Herausgabe von Zahlen sind die Kirchen nicht verpflichtet. Laut Schätzungen besitzen die beiden großen Konzerne – Verzeihung, die beiden großen Kirchen in Deutschland zurzeit wohl insgesamt 435 Milliarden Euro (vor allem in Immobilien, Aktien und Stiftungen) – das entspricht dem Bruttoinlandsprodukt von Polen. Wobei das ein schlechtes Beispiel ist, denn Polen ist die Kirche. Nur zur Veranschaulichung: Von 435 Milliarden Euro könnte man jedem Kirchenmitglied in Deutschland eine goldene Badewanne kaufen. Der einzige Bischof, der den Reichtum seiner Religion ehrlich und konsequent zur Schau stellte, Franz-Peter Tebartz-van Elst aus Limburg, wurde rausgeschmissen. Wegen Geheimnisverrats.

Nach hundert Jahren Nichtstun gegen die Kirchenprivilegien, sogenannter Prochristination, wäre es an der Zeit, die Bedeutung und das Vermögen der Kirchen an die sinkende Mitgliederzahl anzupassen. Da wäre eine Menge zu (kat)holen! Wo bleibt die Demo „Deutsche Beten enteignen!"?

 


Tilman Lucke ist zu sehen in: "frisch gepresst. Politcomedy-Late-Night" und in seinem Soloprogramm "Verdummungsverbot".