09.09.2019

No. 69

Waldorfschule – hundert Jahre gefühlte Bildung

Neues aus #Postfaktistan

100 Jahre Waldorfschule! Das entspricht ungefähr 13 Jahren öffentlicher Schule. Viele Waldorfschüler können das Jubiläum leider nicht mitfeiern, weil sie den Zahlenraum bis 100 noch nicht hatten. In postfaktischen Zeiten einer Bildungsministerin Karliczek liegt Waldorf im Trend! Ein getanzter Glückwunsch.

 

Autor: TILMAN LUCKE

 

Am 23. September ist der „Tag der freien Schulen“ in Berlin. Was Maschmeyer und andere Riester-Renten-Ritter für die staatliche Rente sind, sind die freien Schulen für die staatlichen Bildungseinrichtungen: Privatanbieter, die sich trotz überteuerter Gebühren zu 80 Prozent vom Staat finanzieren lassen und zugleich das Ressentiment schüren, sie könnten die Aufgaben besser lösen als der Staat. Neben den kirchlichen Schulen – die über versteckte Kirchenwege sogar noch eine höhere Staatsquote haben – sind die Waldorfschulen die größten Anbieter privatisierter Bildung. Sie werden dieser Tage 100 Jahre alt.

2019 steht der Tag der freien Schulen unter dem Motto „Leben ist Vielfalt“. Wer denkt, mit einem derart konsensfähigen Motto könne man nichts falsch machen, wurde 2016 eines Fälscheren belehrt: Damals hieß das Motto „Für’s Leben lernen“. Das kleine Zeichen zwischen „für“ und seinem s nennt man Anthropostroph. Das Wort war zwar durchgestrichen – aber nicht, weil es falsch ist, sondern weil man in Waldorfschulen nur „Leben lernt“. Inhalt stört da nur. Bildung ist an Waldorfschulen unwichtig, Mathematik gibt es erst ab der 14. Klasse, und rechte Winkel haben grundsätzlich etwa 72 Grad. Damit sind die Waldorfschulen durchaus wichtig für Berlin: Hier reift die nächste Generation Architekten für den BER heran.

Zugleich sind sie ein repräsentatives Biotop für Deutschlands schwarz-grüne Zukunft: Die religiöse Enge einer AKK gibt sich hier einen alternativen Anstrich: Schwarzbrot trifft Grünkern. Und möglichst keine Ausländerkinder.

Apropos alternativ: 2018 erntete eine Berliner Waldorfschule einen Shitstorm, weil sie es ablehnte, das Kind eines AfD-Mitglieds im Berliner Abgeordnetenhaus aufzunehmen. Und das stimmt: Es ist doch zutiefst ungerecht, dass das Kind nun auf eine staatliche Schule gehen und da vielleicht sogar noch was lernen darf! Dabei passen die beiden bildungsfernen Schichten AfD und Anthroposophen doch so gut zusammen: Beide sind sektenartige Gruppierungen, die ihre eigenen Wahrheiten verbreiten und von der Wissenschaft nichts halten. Der einzige Unterschied: In der AfD gibt es mehr rechte Winkel.

Sektengründer Rudolf Steiner wäre heute vermutlich AfD-Ehrenmitglied, auch wegen seiner kritischen Haltung gegenüber Juden. Insofern trifft die Twitter-Reaktion der Hilfshistorikerin Erika Steinbach, Kinder von AfDlern, die nicht auf die Waldorfschule dürfen, seien die neuen „Judenkinder“, dann doch wieder ziemlich gut zu.

Die Postfaktisten aller Couleur, für die Glaube und Meinung wichtiger als Wissen sind und die ihre kruden Lehren mit missionarischem Eifer zu verbreiten suchen, sollten sich einfach alle zusammen in einer Waldorfschule einschließen. Das wäre dann zwar eine alles andere als freie Schule, aber die Anthroposophen, Heilpraktiker, AfDler, Impfgegner, Klimaleugner und Reichsbürger würden endlich aufhören, der denkenden Bevölkerung auf die Walnüsse zu gehen. In Deutsch würden die ABC-Schützen – Verzeihung, die AfD-Schützen – Schreiben nach Gehör „lernen“, im Geschichts- und Erdkundeunterricht zögen sie Landesgrenzen nach Gefühl, freiwillige Wahlfächer wären gefühlte Mathematik und getanzte Teilchenphysik, und im Sportunterricht würfen sie natürlich statt mit Medizinbällen mit Globuli.

Gegründet wurde die erste Waldorfschule 1919 übrigens in Stuttgart. Gründer war Emil Molt, der Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik. Ein Zigarettenbaron erkennt seine Liebe zur Jugend! Das ist, als hätte der Kannibale von Rotenburg ein Feinschmeckerrestaurant gegründet. Da heute fast niemand mehr der Zigarettenlobby die Stange hält (es fehlt das Glimmbim), hätte sich Rudolf Steiner, würde er heute leben, vermutlich eher von zeitgemäßen, moralisch einwandfreien Unternehmen wie Nestlé, Monsanto, VW, der Deutschen Bank und der Tönnies-Schlachterei sponsern lassen. Und vielleicht hätte Julia Klöckner mit allen zusammen auch noch ein Werbevideo für den Tag der freien Schulen gedreht. Motto: „Was dem Steiner damals Juden, sind uns heut Lineal und Duden!“

Auch „Fridays for future“ passt zur Waldorfschule: Schüler sollten zwar nicht unbedingt jeden Freitag fürs Klima schwänzen. Doch jeder Tag, den ein Waldorfschüler nicht in seiner Schule verbringt, rettet wertvolle IQ-Punkte!

 

 


Tilman Lucke ist zu sehen in: "frisch gepresst. Politcomedy-Late-Night" und in seinen Soloprogrammen  "Verdummungsverbot" und "Lucking zurück".