30.11.2018
Verspätuum mobile II
Teil 2: 25 Jahre Deutsche Bahn und kein bisschen pünktlich
Folge 34
Die Deutsche Bahn wird 25 Jahre alt. Wäre der Investitionsrückstand bei einem normalen 25-Jährigen derart groß, er könnte nur noch DSDS-Kandidat werden. Die Züge gleichen mittlerweile Überraschungseiern: dünnhäutig, voller Hartplastik, drin viel heiße – oder im Winter kalte – Luft, und nur in jedem sechsten Zug stimmt alles.
Autor: TILMAN LUCKE
Das Beste für die Menschheit, was bisher in der Bahn passierte, geschah vor genau 100 Jahren: Am 11. November 1918 wurde der Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet, und zwar in einem Bahnwaggon, der auf freier Strecke gehalten hatte. Wegen Störungen im Betriebsablauf. Also, wegen Krieg. Im selben Waggon fand später auch der Waffenstillstand von 1940 statt. Praktisch, dass der Zug dort so lange außerplanmäßig gehalten hatte. – Würde heutzutage bei jedem Bahnhalt auf freier Strecke ein Waffenstillstand unterzeichnet, hätten wir schon längst den Weltfrieden. Und Bahnchef Lutz bekäme den Friedensnobel-Super-Sparpreis.
Zum 25. Geburtstag der Deutschen Bahn AG sind die Aussichten trüb: Nur in jedem sechsten Zug (Stand: heute, Tendenz: fallend) klappt alles, vom Bordbistro über die Toiletten und die Wagenreihung bis zur Pünktlichkeit und den Reservierungsanzeigen. Das heißt: Wenn Sie in einem Sechserabteil sitzen und zufällig alles an Ihrer Fahrt stimmt, fahren die anderen fünf auf jeden Fall falsch. Wir bitten um Entschuldigung.
Gleichzeitig mit der Bahn feiert natürlich ihr wichtigster Zugbegleiter seinen 25. Geburtstag: Max Maulwurf, der aufdringlich gut gelaunte Baustellenerklärbär. Der hat ab 2019 wieder alle Schaufeln voll zu tun, wenn über mehrere Jahre hinweg die Stammstrecken erneuert werden. Das scheint sinnvoll, gehen doch 50 Prozent der Verspätungen auf die vier Nadelöhre in Köln, Frankfurt am Main, Würzburg und Hamburg zurück. Doch drei dieser vier Regionen sind von den Großbaumaßnahmen gar nicht betroffen. Immerhin gibt es momentan rund 800 „kleinere“ Baustellen im deutschen Streckennetz. Wie wäre es, wenn die EU im Rahmen der Abschaffung der Zeitumstellung einfach ein Schaltjahr einfügt, an dem die Bahn alle Verspätungen wieder reinholt, die sie in den letzten Jahrzehnten eingefahren hat? Ein bahnloses Jahr gewissermaßen. Würde gar nicht auffallen.
Übrigens: „Pünktlich“ laut Definition der Bahn sind alle Züge, die weniger als sechs Minuten zu spät kommen – Anschlusszug hin oder her oder weg. Welche Definition die Bahn für „Minuten“ hat, ist hingegen unbekannt, vermutlich alles, was unter hundert Sekunden beinhaltet. Eine Pünktlichkeitsquote (also nach der Sechs-Minuten-Regel!) von 82 Prozent ist angestrebt. Inzwischen soll dieses Ziel aber nicht mehr 2018, sondern erst 2025 erreicht werden. Wir bitten um Entschuldigung.
Ein Erlebnis brannte sich mir neulich wie ein Fanal ins Gedächtnis: Ich stand auf dem Bahnsteig, und plötzlich und unerwartet fuhr mein Zug pünktlich (!) auf dem richtigen Gleis (!!) in der korrekten Wagenreihung (!!!) ein. Selbstverständlich rief ich sofort die Kummerhotline der Bahn an und erklärte, als Kabarettist sei ich auf den täglichen Bahnsinn angewiesen. Jeder Kollege lebe zu einem großen Teil seines Programms auf Staatskonzernkosten. Wie viele von uns würden sich nach der Nachricht, es klappe plötzlich etwas, verzweifelt vor den nächsten (dann aber hoffentlich wieder verspäteten) Zug werfen? Aber Entwarnung: Die Wagenreihung war aus Versehen einmal zu oft vertauscht worden und deshalb wieder korrekt; das falsche Gleis war leider durch andere falsche Züge besetzt; und der Zug war der von vor 24 Stunden. Alles wieder in Ordnung.
Tilman Lucke ist zu sehen in: "frisch gepresst. Politcomedy-Late-Night" und in seinem Soloprogramm "Verdummungsverbot".