11.10.2018

Wohnst Du noch oder lebst Du schon - auf der Straße?

Folge 27

In Berlin geht es endlich wieder aufwärts. Zumindest mit den Mieten, getreu dem Motto: »Wohnst Du noch oder lebst Du schon - auf der Straße? Gentrifizierung, Wohnungsnot & warum öde Neubauten keine Therapie gegen Mietenwahnsinn sind.

Autor: MARTIN VALENSKE


Fleißig, organisiert, p
ünktlich, wirtschaftlich stark.Egal welches Klischee Sie über Deutschland zur Hand nehmen, auf Berlin trifft es nicht zu. Auch in Europa hat Berlin eine Sonderstellung.Normalerweise sind Hauptstädte ökonomische Zugpferde, die wie Paris, London, Warschau usw. das Bruttoinlandsprodukt ihres Landes erheblich steigern. Die einzige Hauptstadt, die das BIP dagegen senkt, ist Berlin. Reichtum oder wenigstens Geld sucht man hier vergebens. Ökonomisch gesehen gilt Berlin als nördlichste Stadt der Sub-Sahara. Mancherorts herrscht sogar noch Tauschwirtschaft. Auf Berliner Schulhöfen tauscht man z.B. Handys und Zigaretten gegen Schläge und Tritte.

Ganz langsam und vorsichtig stellt sich aber auch hier eine ökonomische Verbesserung ein, deren Kehrseite leider in Verbindung mit mangelhafter Wohnungsbaupolitik die berüchtigte Gentrifizierung ist. Das bedeutet: Aufwertung von Kiezen und Entfernen der Eingeborenen durch Mietsteigerungen. Seit 2009 haben sich in besonders begehrten Vierteln der Stadt die Mieten um über 90% verteuert. Damit ist Berlin weltweit auf Platz eins der Städte mit der größten Mietsteigerung.Wenigstens einmal ein 1. Platz. Wie schön. Unter dieser Entwicklung leiden besonders Menschen mit wenig Einkommen (Berlinerinnen) und Transferleistungsempfänger (Berliner). Neuhinzugezogene aus Stuttgart, München oder Paris transpirieren dagegen immer noch vor Begeisterung, wenn sie ein »Schnäppchen« gemacht haben und nur 750,00 Euro pro Monat für einen feuchten Treppenabsatz bezahlen dürfen. Oder wie Makler sagen: »Lichtdurchflutetes Liebhaberobjekt in lebendigem Viertel«.

Die Veränderungen zeigen sich auch im Stadtbild. Früher war Berlin dominiert von ranzigen Eckkneipen mit traditionellen Namen wie etwa »Bei Gabi«. Heute sind diese Etablissements immer noch ranzig, heißen aber ganz mondän »Chez Gabriel«. Hier tischt Ihnen ein konsequent englisch sprechende Kellner aus Spanien 73 unterschiedliche Sorten »Chai Latte« auf. Das ist kein asiatischer Porno, sondern Statussymbol der Hipster und Besserverdienenden.

Es sollte daher niemanden wundern, dass sich ein Großteil der Neubauten an eben jenem Klientel orientiert. Der neuste Trend sind Wohnhäuser mit Mikroapartments: Winzige möblierte Appartements in bester Lage, die sich preislich an das gehobene Management richten und für maximal zwei Jahre vermietet werden. Das entspricht genau dem Zeitrahmen, den die top ausgebildeten und hoch mobilen Manager brauchen, um ein Unternehmen an die Wand zu fahren. In Berlin entstehen solche Wohnungen gerade gegenüber dem Hauptbahnhof im »Fritz Tower«. Dieses Hochhaus hat die Form eines ausgestreckten Mittelfingers, kleine viereckige Fenster und eine Außenverkleidung aus Muschelkalk und preisgünstigem Betonimitat. Diese Stinkefinger-Ästhetik ist nicht nur ein ungewöhnlich ehrliches Statement an die weniger wohlhabenden BewohnerInnen Berlins, sondern fügt sich architektonisch auch wunderbar in die Umgebung ein. Denn was wurde hier nicht alles gebaut in den letzten zwanzig Jahren. Wohin das Auge reicht, nur formschöne, abwechslungsreiche und ästhetisch ansprechende Gebäude. Ein Spaziergang durch Berlinsst sofort erahnen, wo die Redewendung »Da staunste Bauklötze« herkommt. Ein Klotz, noch ein Klotz und noch ein Klotz. Viele hatten gehofft, mit diesen Klötzen ist es wie bei Tetris. Wenn zehn in einer Reihe nebeneinander stehen, verschwinden die wieder. Leider nein.

Aber vielleicht muss man Berlins moderne Architektur einfach als schillerndes Gesamtkunstwerk betrachten. Diese Architektur ist nicht öde, sie ist eine Sinfonie für die Augen. Jawohl! Eine Öde an die Freude:

Freude schöner Neubauklumpen,

optisch kennst Du kein Pardon!

Architekten planen trunken

schöne Scheiße aus Beton. 

Wie heißt es doch so schön: »Sehen Se, dit is Berlin!«

 

Martin Valenske ist zu sehen in: "frisch gepresst. Politcomedy-Late-Night
und in
"Wir haben genug".