Horst Heitzenröther - einer der DISTEL-Urväter feiert am 21.05.21 seinen 100. Geburtstag

„... ich bin noch lange nicht ich!" – der Publizist Horst Heitzenröther

Es gibt nicht viele Autoren, die einen einhundertjährigen Geburtstag aufzuweisen haben. Der am 21. Mai 1921 in Offenbach geborene und mit lediglich kriegsbedingten Unterbrechungen seit 1939 in Berlin lebende Horst Heitzenröther ist einer von diesen Wenigen.

Im Alter von 80 Jahren bekannte er in einem Gedicht: „Ich ging im Stadtwald von Frankfurt am Main / – ein Bub, der träumt, einst wie Goethe zu sein", um dann mit einem Blick auf sein vielfältiges publizistisches Schaffen zu resümieren „Beim leichten Schreiten eröffnet sich klar: / ich bin nicht groß, wie ich's kindsköpfig war; / und dieser Durchblick verstärkt mir apart / die Freude am Dichten auf eigene Art."

Horst Heitzenröther hat sein Leben lang „auf eigene Art" geschrieben: Gedichte, Glossen, Lieder, Texte für Unterhaltungssendungen und Kabarett, Hörspiele und vor allem Kritiken, Kritiken, Kritiken. Und bis heute hält er sich schreibend am Leben, wie er es selbst formuliert. Mit kleinen Glossen kommentiert er nahezu täglich die vielfältigen Sprachverunglimpfungen in den Medien. Adressat seiner Leserbriefe ist vor allem die „Berliner Zeitung", seit 75 Jahren sein vertrauter und mittlerweile ausschließlicher Lesestoff. Sein Motiv: „Wo ich Lädierungen des Niveaus entdecke, versuch ich, mich als Therapeut zu mühen."

Nach dem Besuch der Oberreal- und Handelsschule zog es Heitzenröther mit achtzehn Jahren nach Berlin. Sein Volontariat in der Textil-Werbung musste er nach kurzer Zeit aufgeben. Er wurde zum Wehrdienst einberufen. Nach zermürbenden Kriegsjahren kletterte er 1943 in verzweifelter Angst aus seinem Schützengraben, schaffte es unversehrt bis zum Unterstand der Amerikaner, die er beim Kartenspiel überraschte. Überglücklich ließ er sich von ihnen gefangen nehmen.

Die nachfolgenden Monate verbrachte der freiwillige Kriegsgefangene im Lager Fort Devens (Massachusetts) vor allem mit Kultur. Er betreute die Bibliothek, schrieb für die Lagerzeitung und beteiligte sich am Kabarett des deutschen Kommunisten E. R. Greulich. Der war es auch, der ihn nach der Rückkehr 1946 in Berlin bei sich aufnahm und ihm beim Neustart behilflich war.

In der neuen Wochenzeitung „Start" (Berliner Verlag) entdeckte der Heimkehrer im Herbst 1946 ein vom ihm während der Gefangenschaft für die Lagerzeitung „PW" verfasstes Gedicht. Ein Mitgefangener, Drucker im Lager Fort Devens, hatte einige Exemplare der Zeitung der Redaktion vorgelegt. Heitzenröther meldete sich bei der Zeitung, bekundete sein Interesse an kulturellen Themen und wurde zur Mitarbeit aufgefordert. So begann seine publizistische Laufbahn.

Kurz darauf wurde er Leiter der Kulturredaktion der 1947 gegründeten „Junge Welt", und das, ohne selbst Mitglied des Jugendverbandes zu sein. Nach kurzer Zeit fühlte sich der junge, noch unausgegorene Journalist in der täglichen Redaktionsarbeit eingeengt und arbeitete wieder freischaffend. Lagerkamerad Greulich, inzwischen in Ostberlin politisch bestens vernetzt, vermittelte ihn in die „Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Schriftsteller". Gemeinsam mit vielen späteren Nationalpreisträgern, wie Karl Grünberg, Jan Koplowitz und Kurt Bartels diskutierte der junge Sozialist in Gruppenabenden die Entwicklungen im geteilten Deutschland, knüpfte Kontakte, erhielt Aufträge für Reportagen, veröffentlichte Gedichte und wurde fast zwangsläufig, schließlich sei er doch auch „für unsere Sache", Mitglied der SED. Aber der an der Sprache von Thomas Mann geschulte Journalist, zu dessen Vorzugsautoren Kurt Tucholsky und Erich Kästner gehörten, stieß sich an der Sprache der Parteiredner. Und obwohl mittlerweile in linksgerichteten Kreisen heimisch geworden blieb er den Versammlungen fern, wollte die Partei verlassen, was nicht ging. Er wurde dann jedoch, endlich, nach achtzehn Monaten wegen fehlender Parteidisziplin entlassen. Dennoch verkehrte er weiter in den Kreisen der Künstler, Journalisten und Kulturfunktionäre, galt als „parteiloser Genosse", erhielt weiterhin die lebensnotwendigen Aufträge. Auch seine Reportagen und satirischen Beiträge wurden anstandslos gedruckt, so in der Zeitschrift „Neues Leben" oder in „Frischer Wind". Für das Satireblatt hatte er sich das Pseudonym Heinz Horster zugelegt, hing er doch zu dieser Zeit an der Vorstellung, ein „seriöser" Romanschriftsteller zu werden, dem der Ruf, ein Humorist zu sein, schaden könne.

Nach kurzem Zwischenaufenthalt im Verlag „Lied der Zeit" wurde Heitzenröther im Frühjahr 1948 Mitarbeiter im Kabarett „Frischen Wind", und zwar in der Funktion eines „Chef"-Dramaturgen, der besseren Lebensmittelkarte wegen. Lagerkamerad Greulich hatte im Auftrag der SED kurz zuvor die Leitung des seit 1946 im Ostsektor der Stadt bestehenden Ensembles übernommen. Er sollte dort für eine klarere politische Linie sorgen. Und so schrieben der „Chef"-Dramaturg und Direktor zusammen mit dem späteren Distel-Direktor Erich Brehm – Greulich kannte ihn aus gemeinsamer Jugendzeit in Neukölln – die Revue „Berlin – diesseits von Gut und Böse".

Im neuen Ensemble finden sich die Namen Isot Kilian, Theo Schall, Günter Ruschin, Robert Trösch. Geprobt wurde unter der Regie von Heinrich Goertz. Am 2. August 1948 erfolgte die Abnahme des Programms durch den amerikanischen Oberstleutnant Ausländer und den russischen Major Kotelnikow. Die Premiere war acht Tage später. Gespielt wurde unter widrigen Umständen in einem kleinen Saal des teilzerstörten „Haus Vaterland" am Potsdamer Platz. Nach wenigen Wochen musste Direktor Greulich das verlustreiche Vorhaben aufgeben. Die Wirren um die Währungsreform und die Berlin-Blockade brachten nahezu das gesamte kulturelle Leben im Nachkriegsberlin durcheinander.

Doch Horst Heitzenröther hatte Gefallen am Kabarett gefunden. Er wollte weitermachen. Es gelang ihm, bei der SED-Verwaltung 3000 Ost-Mark aufzutreiben. Zusammen mit der Schauspielerin Gisela Reißenberger organisierte er ein Ensemble, fand Autoren und Musiker und kümmerte sich um Proberäume und Kostüme. Frau Reißenberger besorgte mit weiblichem Charme die Lizenz der sowjetischen Militärverwaltung. Das neue Kabarett nannten sie „Kleine Bühne". Premiere des ersten Programms „Die Kleine Bühne stellt sich vor" war im Juli 1949 im Kantinensaal des KWO vor Kulturobleuten aus Berliner Betrieben. Die Truppe galt als „Betriebs"-Kabarett – ein Kabarett für Betriebe mit Auftritten vorrangig in Betrieben. Die „Kleine Bühne" agierte zunehmend erfolgreich. Als 1951 Erich Brehm die Leitung übernahm gab es nur noch ein Ziel – ein Kabarett mit fester Spielstätte in Berlin-Ost. Im Oktober 1953 gründete sich die „Distel". So gilt Horst Heitzenröther neben Brehm und Greulich als einer der Urväter des Kabaretts in der Berliner Friedrichstraße 101.

Nach seinen Aktivitäten für die Kleinkunstbühne widmet sich Heitzenröther von nun an vollständig seiner Arbeit als Publizist, zunächst als Leiter des Ressorts Kultur/Kritik in der Zeitschrift „Die Schatulle", später als freier Rezensent und Theater-Kritiker beim Rundfunk und für diverse Zeitungen. Er verfasst Hörspiele und Manuskripte für Unterhaltungs-Sendungen des Fernsehens. In Zeitschriften finden sich seine sporadisch entstandenen Glossen, Satiren und Gedichte.

Auch beim ihm wächst in den 1980er Jahren das Unbehagens über den „Machtwahn" der einst von ihm bewunderten „Kämpfer gegen den Faschismus". Er arbeitet dennoch weiter, in „passiver Haltung", wie er später erklärt. In dem 1982 entstandenen Gedicht „Zwischendeutsche Selbstbetrachtung" bekennt er: „Im Teil-Land lebend, wo der Startblock zu menschlicher / Lebensform montiert ist, sehe ich diese und / mich abgeblockt. So warte ich und schreibe, / statt über das Leben, übers Theater und / dichte, statt über die großen Probleme, / über die kleinen Vergehen an der Sprache. So ist / diese Welt noch lange nicht

meine Welt, und ich / bin noch lange nicht ich." Sich mit Buridans Esel vergleichend scharrt er „heimlich im Kreise der Meinen trotzig mit den Hufen", um gleichzeitig selbstkritisch zu resümieren „Die draußen hören mich nur Iaah schreien und / das Heu malmen, das man mir hinhält."

Erst im November 1989 als: 
"Das Radio tönt:
‚Heute Nacht geschah die Wende!'
Meine Frau ruft: ‚Liebling aufstehn!'
Das Radio ruft: ‚Ein Volk ist aufgestanden!'
..."
entscheidet er:
„ ...
Na, dann muss ich wohl.
Ich stehe auch auf."
– so der 78-jährige Geistesarbeiter in dem Gedicht „Platonikers Aufstand".

Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau 1993 verfällt Heitzenröther in eine Zeit des „totalen Ruhestands". Erst Jahre später, nach einem „privaten Neubeginn", beginnt für ihn eine neue, überaus produktive Schaffensperiode, die mit geringen Einschränkungen bis heute anhält.

2000 erscheint sein Buch „Leuten, Zeiten und Nichtigkeiten auf den Versen". In zahlreichen öffentlichen Lesungen stellt er es einem interessierten Publikum vor. Und auch wenn sein 2012 fertiggestelltes Manuskript „Die Wut über die verlorenen Wörter" noch keinen Verleger gefunden hat, er setzt sich bis zum heutigen Tag auf seine akribische Weise mit den „sprachlichen Fehlanwendungen" in den Zeitungen auseinander.

Horst Heitzenröther ist ein von langem Leben geprägter, erfahrener, kluger und beharrlicher Mahner und bleibt es für uns hoffentlich noch lange.

Text: Jürgen Klammer, Kabarett-Historiker (Leipzig, Mai 2021)