Gregor Gysi im Gespräch mit Jakob Augstein
Die Gysi-Gesprächsreihe "Missverstehen Sie mich richtig" ist stets ausverkauft. Gern berichten wir hin und wieder über einzelne Termine! Vor kurzem traf Gysi den Spiegel-Kolumnisten "Im Zweifel links" und Herausgeber des "der Freitag" Jakob Augstein - hier eine Zusammenfassung:
Warum blieb Martin Walser als leiblicher Vater so lange verheimlicht?
Jakob Augstein (1967 geboren) erfuhr erst 2002, dass nicht Rudolf Augstein, sondern Martin Walser sein leiblicher Vater ist. Antworten, ob es eine Affäre zwischen seiner Mutter und Walser gab, als sie schon mit Rudolf Augstein zusammen war, würde er seinen Eltern überlassen. Er machte 2009 öffentlich, dass Walser sein Vater ist, weil es bereits ein „offenes Geheimnis“ war. Augstein wollte da lieber die Eskalationshoheit behalten und seine Kinder nicht in einer doppelten Wirklichkeit oder in Lüge aufwachsen lassen.
Zwei Väter
Er hatte eine sehr gute, sehr enge liebevolle Beziehung zu seinem rechtlichen Vater Rudolf Augstein. Seinen leiblichen Vater lernte er erst 2005 kennen und hat seitdem ein sehr gutes, herzliches und liebevolles Verhältnis zu ihm, wenn auch keine richtige Vater-Sohn-Beziehung.
Mutter verführte ihn zur Literatur
Seine Mutter, Maria Carlsson, war Übersetzerin. Sie übersetzte John Updike - sozusagen der amerikanische Martin Walser. Sein Interesse für Literatur weckte seine Mutter in ihm. Sie hatte ein Regal mit ihren Lieblings-Büchern, die er las.
Kinderstreiche – heute würde sich das Jugendamt melden
Seine Kindheit in den 70ern ist nicht mit der seiner Kinder heute vergleichbar. Wenn die Kinder heute das tun würden, was er gemacht hatte, würden gleich das Sozialamt, die Polizei oder mindestens der Schuldirektor kommen. Der Sozialstaat würde sofort intervenieren oder sich sorgend zuständig fühlen. Er sei mit seinem Freund immer irgendwo hingegangen, wo man nicht hin durfte (z.B. Baustellen), hatte Sachen kaputt gemacht, weggenommen oder in die Luft gesprengt.
Berufswunsch: Fauler Zentralbänker
Als 17-18-Jähriger begann er sich für Wirtschaft, europäische Währungspolitik und Volkswirtschaft zu interessieren und wollte Chef der Zentralbank werden, weil er glaubte, dass er dann nur über den Zinssatz die Volkswirtschaft lenken müsste und ansonsten nichts tun bräuchte. So entschloss er sich auch, Volkswirtschaft zu studieren; wobei er bald wegen des zu hohen Mathe-Pensums zu Politikwissenschaften, Germanistik und Theaterwissenschaften wechselte.
Journalismus – Ausweg aus der Schüchternheit
Nach dem Studium der Politikwissenschaft wusste er nicht, was er machen sollte. Also absolvierte er ein Praktikum bei der Berliner Zeitung, Lokalredaktion Schöneberg. Das gefiel ihm vor allem, weil er eigentlich ein unsicherer Mensch war, der sich in fremder Umgebung nie so wohl fühlte und mit dem Journalismus ein Konstrukt gefunden hatte, dass ihm den Zugang zur Öffentlichkeit verschaffte. So fand er Gefallen am Journalismus.
Bei der Süddeutschen – CSU-Politiker sind auch nur Menschen
Sein Volontariat machte er bei der Süddeutschen Zeitung, beim Bayern-Teil. Das war schön, weil er als geborener Hamburger als „Ausländer“ für nicht ganz voll genommen wurde. Trotzdem behandelte man ihn immer sehr nett. Da merkte er, dass auch CSU-Politiker Menschen seien. Man könne sich mit ihm unterhalten, nur eben nicht: über Migration, Gleichberechtigung von Schwulen und von Frauen oder über soziale Ungleichheit ...
Berlin war einst unattraktiv
Als die Bundesregierung 1999 nach Berlin zog, wollte die SZ eine Berlin-Seite in jeder Ausgabe publizieren und eröffnete in Berlin eine Lokalredaktion. Niemand drängte sich nach Berlin, die Stadt war den Redaktions-Leuten fremd. Er dagegen war „jung und willig“.
Warum ein Linker geworden?
In Berlin saß er später für „Die Zeit“ im Parlamentsbüro. Und er arbeitete fast 5 Jahre als Gerichtsreporter. Hier sah er das Treibholz der Gesellschaft und verstand die soziale Bedingtheit des Menschen. Er beschreibt diese Zeit als für ihn wesentliche Phase der Politisierung, der Herausbildung seines Menschenbildes - in der Berührung mit dem realen Leben. Er hörte auf, an den freien Willen zu glauben. Seitdem versteht er Links sein als Achtsamkeit gegenüber den Schwachen – also darauf zu achten, dass möglichst wenig Menschen vorm Gericht landen ... - das wäre die sozial Verantwortung, geradezu Verpflichtung jedes Menschen, der Arbeit und eine Wohnung hat.
Linker Mainstream?
2008 kaufte er den „der Freitag“ weil es seiner Ansicht nach keine kluge linke Zeitung in Deutschland gab. Viele, die links seien wollen, sind vor allem links ideologisch. Auch die Redaktion vom „Freitag“. Dort war die Redaktion erst einmal sauer auf ihn, als er sagte, dass sie „ganz weit da draußen auf dem Meer wären und sie näher an die Küste müssten, wenn sie gehört werden wollen“. Er bat sie, nicht zu weit vom Mainstream zu schreiben. Diese Balance versucht er nun mit dem „der Freitag“ zu meistern.
Weiterer Zwischengedanke: Eine linke Boulevard-Zeitung könnte es nicht geben, denn die dann immer nötigen „16 Aspekte“ in der Zwischenüberschrift sind im Boulevard nicht machbar. Aber „Spiegel online“ hat linke und populistische Züge.
Fake News & Populismus
Neuer Mitherausgeber vom "der Freitag" ist Jürgen Todenhöfer. Die Zusammenarbeit mit ihm interessierte ihn, weil Todenhöfer sich als ehemaliges CDU-Mitglied später als Linker entpuppte – radikaler links als die Linkspartei. Außerdem ist er eine „Galionsfigur“ für den medialen Wandel – da er mit seinen Aktionen und im Alleingang über Youtube-Beiträge zur Medienfigur geworden ist. Dieser Journalismus und Phänomene wie Fake News und Populismus – interessieren Augstein als „klassischen“ Journalisten.
Debattieren mit dem stellvertretenden BILD-Chefredakteur
Seine wöchentlichen Debatten-Sendung mit Nikolaus Blome bei Phoenix sind ihm sehr wichtig. Abgesehen vom Argumentationstraining, ergänzen sie sich gut, denn eigentlich – wenn das bloß bitte niemand an die große Glocke hängt – wäre Blome ein Sozialdemokrat, was sein Arbeitgeber bei Springer nur noch nicht bemerkt hat.
Wie ist die Welt heute?
Brexit, Trump, Erdogan, Ungarn, AfD, ... - das alles ist Ausdruck eines kulturellen Wandels, der alles infrage stellt, was wir mit unserem demokratisch-liberalen Denken für selbstverständlich gehalten haben.
Dazu gekommen ist es, weil die liberale Demokratie in Wahrheit keine solche war. Man hat sie so genannt und unter diesem Deckmantel die Partikularinteressen vermögender Leute gefördert - bis zu dem Punkt, wo Gesellschaften so auseinander driften, so dass sie im Prinzip nicht mehr demokratisch funktionieren.
In den 90er dachte man noch, Kapitalismus und Demokratie bedingen einander; jetzt wird klar, der Kapitalismus findet sich mit der Demokratie ab, solange sie ihm nicht in die Quere kommt - wenn ja, wird die Demokratie einfach ausgehebelt und abgeschaltet.
Trump & Consorten
So hat die USA jetzt einen quasi faschistischen Präsidenten, der sich ein Kabinett aus Superreichen baut und zugleich Ressortiments gegen Ausländer, Moslems, Lesben, Schwule, Mexikaner, ... schürt. Man spaltet die Gesellschaft atmosphärisch, um, was die echten Machtverhältnisse angeht, nichts ändern zu müssen.
Lügenpresse und das dramatische Versagen der Linken
Dass das alles möglich war, liegt auch an dem dramatischen Versagen der Linken, weil sie es nicht geschafft haben, gegen diese neo-liberale Lüge aufzuziehen.
Auch wir Medien haben total versagt, weil wir uns um unsere Abonnenten kümmerten, statt für Demokratie und für dieses Land zu schreiben. Die Medien befinden sich in der gleichen Vertrauens- und Legitimationskrise wie die Politik. Und insofern ist die Beschimpfung Lügenpresse zutreffend.
Und Europa?
Das Jahrzehnt der guten Laune, als alle dachten, die liberale Demokratie hat sich jetzt durchgesetzt und Europa ist unsere Zukunft, ist vorbei. Das können wir uns jetzt knicken! Zu erwarten ist: Rückkehr des Nationalismus, neue Grenzzäune, Ausgrenzung des Fremden und von Minderheiten, ...
Warum ist es dazu gekommen? Auch in Europa – gemeint ist die EU – sitzen Leute, die sind seit Jahrzehnten mental geschult, Öffentlichkeit und Politik und private Sphäre voneinander abzugrenzen und diese Weltsicht für schlüssig zu halten.
Europa ist auch Angela Merkel scheiss-egal. Das hat man in der Euro-Krise gemerkt – ihre Position gegenüber Griechenland, wie sie damit die europäischen Stimmung beeinflusste und wie wir mit unserem Exportüberschuss alle anderen EU-Länder platt machten, ... Es ist ein Problem, wenn Angela Merkel in solchen historischen Schlüsselmomenten keine Visionen, keine gesellschaftlichen Zielvorstellungen hat!
© Gysi: TRIALON/ Kläber | © Augstein: Gudrun Senger