Keine Mündigkeit vorschützen

IDEE & HINTERGRÜNDE

Inge Ristock und Hans Rascher über die Idee ihres Programm "Keine Mündigkeit vorschützen":

Ristock: "Es gab im Kabarett schon immer mal Nummern, in denen in nur einem Bereich das Ideal auf die Wirklichkeit traf, also das schöngefärbte Bild mit der Realität in Verbindung gebracht und man so auf die Lüge aufmerksam gemacht wurde. Rascher und ich wollten das mal auf das Gesamtbild bringen und dabei die Entmündigung des DDR-Bürgers in den Fokus nehmen. Uns wurden ja die Wahrheiten vorgegeben, die wir nur weiterbeten sollten."

Rascher: "DIe Kontrahenten des Stücks waren das Ideal des Kommunismus, wo keiner ran kann, das ist heilig, und einen sehr guten und sehr sympathischen Parteifunktionär, also zwei Figuren, die eigentlich auf der selben Seite stehen müssten. Und die haben sich gefetzt. Das Ideal hat dem Parteisekretär immer vorgeworfen, du verwirklichst mich nicht."

 


Chronik an der Arbeit zu "Keine Mündigkeit vorschützen"

Anfang des Jahres 1988 erhielten wir in der Dramaturgie der DISTEL Kenntnis darüber, dass die Autoren Inge Ristock und Hans Rascher an einem Kabarettprogramm mit dem Arbeitstitel „Ideal auf Abwegen" arbeiten.
Am 9.Februar 1988 fand ein erstes Gespräch zwischen Inge Ristock und dem Dramaturgen Heinz Lyschik statt. Die Distel bekundete ihr Interesse für dieses Programm und nahm es in ihren Produktionsplan – unter Vorbehalt – auf. Zu dieser Zeit war es üblich, dass Textbücher der DISTEL dem Magistrat, Abteilung Kultur, und auch der Bezirksleitung der SED vorgelegt werden mussten.
Im Mai und Juni 1988 gab es zahlreiche Gespräche mit Mitarbeitern der obigen Einrichtungen, wobei die Vertreter des Magistrats an diesem Projekt weitaus mehr interessiert waren als die Genossen der Bezirksleitung. Im Juli 1988 wurde Otto Stark, der damalige Direktor der DISTEL, telefonisch nachdrücklich unter Druck gesetzt, dieses Projekt nicht zu machen. Er verwies auf die Verantwortung der Dramaturgie und die Bereitschaft der Autoren, am Projekt weiter zu arbeiten.
Am 18. Juli 1988 gab es eine Besprechung zwischen der Mitarbeiterin der Bezirksleitung der Partei, dem Direktor und den beiden Dramaturgen, die das Ziel haben sollte, von dem Projekt Abstand zu nehmen. Da dieses Gespräch nicht protokolliert wurde, haben wir das Gespräch so ausgelegt, dass eine Weiterarbeit am Projekt möglich blieb. Die Zeit von August bis September nutzten die Autoren für Textänderungen, so dass Ende August ein neues „Textbuch" vorlag. Nach Kenntnis der Neuvorlage gab es einen persönlichen Brief vom Stadtrat für Kultur an den Intendanten, in dem auch auf weitere Problem hingewiesen wurde.
Unter Einbeziehung des Regisseurs Klaus Piontek vom Deutschen Theater und der Autoren wurden diese Einwände im Textbuch berücksichtigt. Ende September wurde mit den Proben begonnen. Auch während der Probenzeit wurde laufend geändert und umgeschrieben, um auf den neuesten Stand zu bleiben. Auch ein neuer Titel „Keine Mündigkeit vorschützen" wurde gefunden. Premierentermin war der 19. November 1988. Die Terminkette wurde sowohl dem Magistrat, als auch der Bezirksleitung mitgeteilt, ohne dass es von dort Einwände gab. Zur Hauptprobe am 11. November 1988 erschienen dann erstmals die verantwortlichen Mitarbeiter vom Magistrat und BL. Außer den Satz „Ihr habt uns mächtig angeschissen" gab es keinen Kommentar zur Hauptprobe.
Bereits am Nachmittag klingelten die Telefone, um die Aufführung dieses Stücks zu verhindern. Da Otto Stark zu dieser Zeit schwer krank war, übernahmen Verwaltungsdirektor und Dramaturg die Verantwortung. Am Dienstag, dem 15. November 1988, 9.00 Uhr, vor der Fotoprobe gab es eine Ensembleversammlung mit dem Stadtrat für Kultur, dem Sekretär für Kultur der Bezirksleitung und deren Mitarbeiter, in der mitgeteilt wurde, dass dieses Stück nicht zur Aufführung kommen darf. Es wurde versucht, den Hauptgrund auf organisatorische Probleme zu lenken. Hier konnte aber der DISTEL keinerlei Vernachlässigung nachgewiesen werden.
Da für den Abend der Generalprobe aber 400 Karten verkauft waren, und man Angst hatte vor 400 aufgebrachten Leuten in Nähe der Staatsgrenze, durfte eine Generalprobe, die ausdrücklich als Probe angekündigt werden musste, stattfinden. Diese Aufführung gestaltete sich zu einem absoluten Höhepunkt in der Geschichte der DISTEL. Es gab Standing Ovations. Zahlreiche Besucher, die die Aufführung miterlebt haben, haben sich mit Protestbriefen gegen das Verbot bis ans ZK gewandt. Diese Briefe wurden nicht beantwortet.

Aufgezeichnet von Heinz Lyschik (damals Dramaturg an der DISTEL)